Destinations-Tipp | November 2017

Licht, Raum und Zeit im Überfluss

La Chaux-de-Fonds und Le Locle sind Zentren Schweizer Uhrmacherkunst. Auch ihre Architektur hat Weltkulturerbe-Status.

Sébastien Arcidiacona ist ein geduldiger Mann. Er lächelt und ermutigt noch, wenn andere längst zappelig werden. Wie zum Teufel soll dieses kleine Schräubchen, nur mit der Lupe zu erspähen, dort in das versteckte Gewinde des Uhrengehäuses hineingelangen? Mit ruhiger Hand natürlich. Also bitte nochmals ganz entspannt an der Werkbank Platz nehmen, Lupe auf, Lichtquelle zurechtrücken, Hände und Finger lockern, tief durchatmen und mit der kleinen Pinzette ohne Zittern das Teil einpassen. Und siehe da: Wie ein Wunder fügt sich, was zusammengehört, zu einer Uhr, die nach dem Aufziehen so gleichmäßig tickt wie die verstreichende Zeit. Bravo, geht doch! Mit dem richtigen Rahmen für das „Certificat du Meilleur Horloger“ zu Hause über dem Sofa platziert, wird so schnell keiner mehr behaupten können, man ticke nicht richtig. Schweizer Präzision und Qualität, bestätigt Schwarz auf Weiß, was kann man Schöneres von einer Reise ins Schweizer Jura mitbringen? Ein Uhrenkunstwerk von Greubel Forsey aus La Chaux-de-Fonds oder eine Tissot aus Le Locle vielleicht.

 

Alles tickt

Sébastien hat in seinem Atelier Lmec Mikromechanik in der Rue Jaquet-Droz 5 in La Chaux-de-Fonds eine Möglichkeit für kleine Gruppen bis zu fünf Personen geschaffen, selbst einmal eine Uhr zusammenzubauen. Der Schnell-Kurs in Sachen Uhrenherstellung mit Montageanleitung ist so unterhaltsam wie interessant und für jede Altersgruppe leicht zu absolvieren. Die anderthalb Stunden sind ein reines Vergnügen, denn der Meister höchstpersönlich sorgt mit sachkundiger und verständnisvoller Hilfe dafür, dass selbst Grobmotoriker die filigrane Schönheit des Innenlebens einer Uhr zu schätzen und zu montieren lernen. Mit dem wohltuenden Gefühl, nun die Zeit zu beherrschen, begibt man sich in ein weiteres Refugium der Uhrenkunst, denn das Internationale Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds sollte sich keiner entgehen lassen.

 

Das Musée International d´Horlogerie versammelt 4500 der berühmtesten Uhren aus aller Welt, und jede einzelne ist ein Zeugnis der Geschichte der Zeitmessung. Im Restaurierungszentrum für die antiken Zeitmesser können die Uhrmacher bei der Arbeit beobachtet werden. Eine audiovisuelle Präsentation, eine Multimediashow und interaktive Uhren ergänzen den Besuch im größten Uhrenmuseum der Welt. Bereits im Jahre 1865 war man sich in der Uhrmacherschule von La Chaux-de-Fonds der Notwendigkeit bewusst, eine Sammlung alter und neuer Uhren anzulegen. Seit 1902 gibt es hier ein Uhrenmuseum, seit 1974 ist man dem Institut „Der Mensch und die Zeit“ angegliedert. Für all die Meisterwerke von der Antike bis in die Gegenwart sollte man sich zwei Stunden Zeit nehmen, denn die Exponate von der Pendel- und Turmuhr über nicht mechanische Instrumente, Renaissance und Schweizer Uhren bis zu den Armband- und Präzisionsuhren unserer Zeit ist hier alles vertreten. Ein besonders faszinierendes Ausstellungsstück ist das Astrarium des Giovanni Dondi aus dem 14. Jahrhundert. Der Gelehrte aus Venetien schuf eine der ersten öffentlichen Uhren der Welt.

 

Imposante Stadtarchitektur

Wenn Industrie-Interessen und Stadtentwicklung zusammentreffen, führt das oft zu wenig attraktiven Wohnvierteln und Fabrikgebäuden, die im Kontrast stehen zu den Anforderungen  harmonischer Wohnräume. Dass es auch anders geht, zeigt die seit 2009 von der UNESCO zur zehnten Weltkulturerbe-Stätte der Schweiz ernannten Stadt La Chaux-de-Fonds. Eine wahre Utopie einer Arbeiterstadt mit breiten Boulevards im Schachbrettmuster angelegt, ein urbanes Schmuckstück, einzigartig auf der Welt. Prächtige Häuser mit Jugendstilbalkonen, große, helle Wohnungen, die es den Menschen ermöglichten, ihr Uhrmacherhandwerk an Licht durchfluteten Fenstern nachzugehen. Und noch heute sagt man hier: „Die großen Uhrenmanufakturen, die Gebäude und Hallen sind unsere Schlösser!“ Die Aristokratie hat hier ebenso ihre Spuren hinterlassen wie ein berühmter Sohn der Stadt: Charles-Edouard Jeanneret wurde hier 1887 geboren, bekannt geworden als Le Corbusier, einer der großen Architekten des 20. Jahrhunderts. Seine Villa Turque und Das Maison blanche kann man auf einem thematischen Stadtrundgang entdecken.

 

Alles genießt

La Ferme des Brandt heißt der älteste Bauernhof der Gemeinde La Chaux-de-Fonds. Er hat schon die Zeiten gesehen, als die ersten Bauern Uhrmacher wurden, und ist heute ein charmantes Restaurant mit regionalen Spezialitäten. Selbst das Brot wird hier noch im eigenen Holzofen gebacken, im Sommer lässt sich die Ruhe am Rande der Stadt am besten auf der Sonnenterrasse genießen. Auch das Café de Paris in der Rue du Progrés befindet sich in einem historischen Geschäfts- und Lagerhaus von 1760 und zählt zu den Quartierlokalen, die für die urbane Geselligkeit in La Chaux-de-Fonds typisch sind. Ein Besuch lohnt sich allein schon, um die Architektur dieses Cafés und seinen Gewölbekeller zu bestaunen. Hausgemachte Tees und Desserts, Salatschälchen als Entree und mediterrane Küche sind exzellent. Die Wiederherstellung des alten Dekors und die Restaurierung der Fassade zeigen deutlich, wie man mit denkmalpflegerischen Maßnahmen mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielen kann.

 

Le Locle und der Doubs

Auch das benachbarte Le Locle trägt den Weltkulturerbe-Status, lebt von der Zeitmessung und ihrer Geschichte. Im klassizistischen Château des Monts von 1790, das über einen schönen Park verfügt, ist das sehenswerte Uhrenmuseum untergebracht.  Hier wird eine faszinierende Welt von Erfindern, Künstlern und Denkern präsentiert, die sich alle mit dem Phänomen der Zeit und ihrer Erfassung beschäftigt haben. Liegt in La Chaux-de-Fonds der Schwerpunkt mehr auf den technischen Entwicklungen, bekommt man hier einen vertieften Einblick in die Uhrmachergeschichte und ihren Protagonisten. Eine besondere Automatensammlung der Mechanik-Tüftler vergangener Jahrhunderte mit schreibenden Puppen und trommelnden Pagen verzückt auf Anhieb jeden Besucher. Wem nach so  viel Feinmechanik in historischen Stuben mehr der Sinn nach Gottes freier Natur steht, der wird ganz in der Nähe in der wildromantischen Landschaft des Grenzflusses Doubs fündig. Kleine Fjorde, Canyons und der Wasserfall Le Saut-du-Doubs lassen sich mit einem Bootsausflug erkunden.  

Den Glücklichen schlägt keine Stunde, sagt man. Damit müssen die Einwohner von La Chaux-de-Fonds, von Le Locle, in den Jurahöhen und im Drei-Seen-Land gemeint sein, auch wenn es hier überall tickt, schlägt und klingt.

 

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Text/Fotos: ©PRB